0.
Einleitung
Im Rahmen der Bekanntmachung der Freien Flußzone Süderelbe habe ich meinen Blick auf das Fremde gerichtet.
Ich möchte hier zunächst versuchen, meine Motivation zur Wahl dieses Themas zu verdeutlichen. Die nachfolgenden Gedankensplitter mögen ein paar Lichter in die geistige Landschaft werfen, in der ich das Fremde sehe. Dieser Text ist als noch in der Entwicklung zu verstehen; Feedback ist willkommen.
Das Fremde spielt in vielen Kulturen dieser Welt eine besondere Rolle. Einerseits kann es akzeptiert sein oder sogar als Bereicherung empfunden werden. Andererseits kann die eigene Gruppe und ihre Identität in Abgrenzung zum Fremden hervorgehoben werden. Dabei kann das Fremde soweit abgelehnt und verurteilt werden, daß es bekämpft wird – bis hin zu Vernichtungsaktionen.
Dieses Prinzip kann auch in unserer westlichen Gesellschaft „Blüten treiben“: Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte oder jüngst Mord-Attentate mit einer religiösen Begründung in Frankreich oder Dänemark. (Mehr zum Blütentreiben, in einem ganz anderen Sinne, nämlich dem botanischen, wiewohl durchaus auch in einem existenziellen Zusammenhang, weiter unten.)
Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, die Welt überhaupt nicht in fremd und eigen einzuteilen, sondern Menschen und Dinge unabhängig von ihrer Herkunft anzunehmen. Das aber gelingt offenbar nicht allen und dann wohl auch nicht in allen Situationen.
Wann also wird das Fremde als böse empfunden, wann als gut – oder doch zumindest unterschiedslos akzeptiert? Wann löst es Impulse aus, es niederzukämpfen – und wann ist es die gern integrierte Bereicherung? Gibt es nachvollziehbare Kriterien für diese Entscheidung?
Ist es einfach nur Gewöhnung? Eine Frage der Bildung? Welche Rolle spielen wirtschaftliche und politische Interessen bei Problematisierung und Akzeptanz des Fremden?
Auf diese großen Fragen gibt es hier keine Antworten – sondern nur 3 ganz konkrete Aufnahmen von Fremdheiten in der Freien Flußzone Süderelbe.
Ich betrachte
• fremde Pflanzen,
• fremde Kraftfahrzeuge
• und fremdes Geld.
Dies geschieht mittels sehr verschiedener Erfassungs- und Auswertungsmethodiken – und schließlich gilt der Blick dem Gradienten der Problematik, der von diesen Fremdheiten mitgebracht wird. Besser gesagt: welche Problematik diesen verschiedenen Fremdheiten zugeschrieben wird.
1
Fremde Pflanzen im Heuckenlock
Im Gebiet der Freien Flußzone Süderelbe liegt das europaweit bedeutsame Naturschutzgebiet Heuckenlock. Es stammt bereits aus den 20er Jahren und war damals eine länderübergreifende Angelegenheit zwischen Hamburg und Preußen. Dem komplizierten Grenzverlauf zwischen den Staaten verdankt es überhaupt seine Existenz, denn die räumlich nächsten Bauern hatten kein Recht, die „in der Fremde“, also im Ausland liegenden Flächen zu nutzen, für die anderen war es zu umständlich zu erreichen, so daß sich die Landschaft hier weitgehend naturnah erhalten hat.
Das Heuckenlock ist ein Süßwasser-Tide-Auenwald. Es gibt also Ebbe & Flut, nur nicht mit Meerwasser, sondern mit Fluß-, also Süßwasser. Der durchschnittliche Tidenhub von örtlich gut 3,60m wird allein durch Rückstau des Flußwassers aufgrund des Tidegeschehens in der Nordsee erreicht.
Eine solche ökologische Situation ist weltweit nur selten vorhanden und zudem in den meisten Fällen durch menschliche Aktivitäten beseitigt worden (Abdämmungen, Eindeichungen etc). Die Lebewelt des Heuckenlocks muß mit dem ständigen Wasserwechsel zurechtkommen und sollte auch an Sonderereignissen wie extremen Sturmfluten und winterlicher Eisrasur nicht scheitern.
Zwei Pflanzenarten kommen weltweit nur im Süßwasser-Tide-Bereich der Elbe vor und haben starke Vorkommen im Heuckenlock; gelegentlich sind sie auch an anderen Stellen der Freien Flußzone Süderelbe anzutreffen: Der Schierlings-Wasserfenchel (oder Elb-Pferdesaat; Oenanthe conioides) und die Wibel-Schmiele (auch Elb- oder Schlamm-Schmiele; Deschampsia wibeliana). Desweiteren haben 2 eher kontinental verbreitete Seggen-Arten hier ihren westlichsten Vorkommensort.
Nun zum Fremden:
Nicht kleine Teile der Botanik- und Naturschutz-Fachwelt differenzieren die Pflanzenwelt danach, wie lange eine Art in einem betrachteten Gebiet schon vorhanden ist.
Gängig ist die Einteilung der Arten mit Migrationshintergrund in Archäophyten und Neophyten. Erstere sind frühzeitig mit der Etablierung des Ackerbaus zumeist aus Vorderasien eingewandert (so die typischen Ackerwildkräuter), zweitere sind mit dem zunehmenden Welthandel seit der nachwikingischen Wiederentdeckung Amerikas zu uns gekommen.
Dazu gibt es eine Parallele beim Gentrifizierungsgeschehen in Wilhelmsburg: In den Augen mancher Menschen macht es einen Unterschied, wie lange jemand schon im Stadtteil wohnt. Wer länger oder gar schon immer auf der Insel lebt, hat höhere Rechte im Sein und Tun als die frisch Zugezogenen, denen gern ein verderbender Einfluß auf das Milieu nachgesagt wird.
Manchen Migrantinnen unter den Pflanzen wird ebenfalls unterstellt, daß sie einen schlechten Einfluß ausüben – besonders, wenn sie sich sehr schnell etablieren konnten, also erfolgreich sind. Sie werden dann fachsprachlich als ‚invasive Neophyten’ bezeichnet, oder sogar als ‚aggressiv’.
Derartig negativ identifizierte Arten werden auch schon mal mit Medienkampagnen überzogen – etwa wenn sie bei machen Menschen allergische Reaktionen auslösen (Beispiel: Beifuß-Ambrosie) oder Fotosensibilität auslösen können (Riesen-Bärenklau = Herkulesstaude). Selbst das Bundesamt für Naturschutz hat schon die Bevölkerung zu Vernichtungskampagnen gegenüber unliebsamen Ausländer*innen (unter den Pflanzen) aufgerufen. Wobei es dann geschehen kann, daß gutmeinende „Naturfreunde“, wenn ihre Artenkenntnis nicht hinlänglich ist, in die Flur ziehen und auch schonmal etwas m.o.w. Ähnliches ausreißen.
Einheimische Pflanzen, die negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben können, werden in der Regel nicht mit Ausrottungskampagnen überzogen. So habe ich noch nie von einem etwaigen Versuch gehört, die Birken in unserem Lande auszurotten – obwohl doch eine Reihe von Menschen auf ihre Pollen allergisch reagiert.
Ein wesentliches Argumentationselement gegen ‚aggressive Neophyten’ ist, daß sie einheimischen Pflanzen den Lebensraum nähmen. Allerdings gibt es keine Belege, daß alteinheimische Pflanzen durch neue Migrant*innen zum Aussterben gebracht wurden. (In anderen Weltteilen mögen die Entwicklungen örtlich auch mal dramatischer sein.)
Zwei Gegenargumente möchte ich nennen:
- Es gibt auch einheimische Pflanzen, die zu starken Dominanzen neigen, wo dann kaum noch andere Arten vorkommen können, Schilf und Brennnesseln seien genannt. - Und die bösen Ausländerpflanzen können sich meist nur an Orten massenhaft entwickeln, an denen die Lebensräume gestört sind, also das ursprüngliche Arteninventar nicht mehr im ökologischen Optimum ist – typischerweise durch menschliche Einflüsse verursacht, wozu auch Klimawandel und verstärkte Nährstoffzufuhr gehören.
Liegen der Interpretation des pflanzengesellschaftlichen Geschehens vielleicht Blut&Boden-Ideologien zugrunde, die (menschen)gesellschaftspolitisch in direkter Form doch als einigermaßen überwunden gelten, sich hier aus Noch eine andere Parallele drängt sich auf: Der sich beschleunigende wirtschaftliche Wandel schafft Arbeitsplätze, die der heimische Arbeitsmarkt nicht mehr besetzen kann. Die Antwort heißt Greencards: Ausländische Menschen, die in ihren Herkunftsländern eine passende Ausbildung erfuhren, dürfen hierzulande die vakanten neuen Arbeitsplätze besetzen. – Wenn sich hier die ökologischen Verhältnisse durch menschliche Einflüsse so rasant ändern, daß die genetische Flexibilität des einheimischen Pflanzenparks nicht ausreicht, um sich den neuen Verhältnissen hinterherzuentwickeln, so ist es doch nur logisch, daß andere Arten mit besser passenden Fähigkeiten – wenn sie denn verfügbar sind – die geänderten ökologischen Stellen annehmen. Insofern sind die Neupflanzen ein Zeichen – die Bedrohung, wie groß sie auch eingeschätzt werden mag, liegt woanders begründet.
Die (Ein)wanderungsgeschichte von Organismen ist jedenfalls eine ganz natürliche Sache. Unter den Pflanzen ist so einiges erfunden worden, was der Fernausbreitung dient: Samen mit Flugeinrichtungen oder guter Schwimmfähigkeit, die Wind und Wasser zum Ausbreiten in der Welt nutzen, hakige Verbreitungseinheiten, die sich im Tierfell (oder an menschlicher Kleidung) festheften, klebrige Samen, die an Hufen (oder Schuhen) kleben und natürlich leckere Früchte mit unverdaulichen Samen, die von den fruchtverzehrenden Tieren (oder Menschen) andernorts wieder ausgeschieden werden. Pflanzen sind also schon lange so schlau, Transportleistungen von Tieren zu erschleichen.
Zur Migration von Pflanzen gibt es eine Schulweisheit: Eingeschränkte Wanderungsmöglichkeiten können zu Artenarmut führen. Die gegenüber Nordamerika deutlich reduzierte Baumartenzahl in Mitteleuropa wird mit der Barrierewirkung der in Europa ostwestlich verlaufenden Gebirge erklärt (Pyrenäen, Alpen, Tatra...), während Nordamerika nordsüdlich ausgestreckte Gebirge hat (Appalachen, Rockys), die die wiederholten Nord-Süd-Wanderungen der Bäume im eis- und warmzeitlichen Wechsel nicht behindert haben. In Europa sind dagegen die vor den Eismassen gewissermaßen nach Süden fliehenden Bäume vor den querliegenden Gebirgen verendet, bzw. die wärmeliebenden Arten aus den Tiefen des Mittelmeerraums sind nicht wieder nach Norden gelangt, weil sie die Gebirgsketten nicht überwinden konnten.
Der Mensch hilft der Pflanze schon seit sehr langer Zeit. Früher waren es insbesondere Haustiere, die zwischen dem Weideland und den Vermarktungsorten oftmals Hunderte von Kilometern getrieben wurden und dabei Pflanzen verschleppten (der historische Ochsenweg querte die Elbe westlich der Freien Flußzone). Jetzt besorgen moderne Verkehrsmittel die Fernausbreitung von blinden pflanzlichen (auch pilzlichen und tierischen) Passagieren. Dabei werden die Organismen teilweise bewußt über Weltteile hinweg transportiert, um z.B. als Zierpflanzen kultiviert zu werden. Danach wird es nicht mehr lange dauern, bis ein*e Gärtner*in ihrer Pflanzen überdrüssig wird und sie irgendwo in die Landschaft kippt. Einigen Arten gelingt es, sich auf diesem Wege dauerhaft anzusiedeln. Oder sie schaffen es aus eigener Kraft, ihre Samen oder Ausläufer auch nach jenseits des Gartenzauns zu befördern.
Nun zur konkreten ‚Problem-Art’:
Mitte des 19. Jahrhunderts ist eine solche Gartenpflanze, in diesem Falle aus Zentralasien, erstmals in freier Wildbahn bei uns beobachtet worden: Das Drüsige oder Indische Springkraut, Impatiens glandulifera. Es kann gut mit reichlich Feuchtigkeit umgehen, wächst schnell und bewurzelt sich rasch neu, wenn es ausgerissen oder weggeschwemmt wird. Die Früchte der Springkräuter entwickeln einen inneren Druck und platzen bei Reife auf, wobei sich die Fruchtwände augenblicklich spiralig aufwinden, wodurch die Samen fortgeschleudert werden.
Diese Art hat nun die Karriere zu einer „Problempflanze“ gemacht. Zunächst haben also Menschen sie ihrer attraktiven und großen Blüten wegen mit kostenlosem Transport über Kontinente hinweg belohnt, dann haben Gartenfreunde die Feinverteilung in der Landschaft vorgenommen und gleichzeitig ist die Art recht fit, was Samenproduktion, Eigenausbreitungsfähigkeit und Wüchsigkeit angeht. Impatiens glandulifera ist erfolgreich – und das ist das Problem. Beziehungsweise ihre Herkunft: Sie ist fremd!
Zwar meiner Kenntnis nach nicht im Heuckenlock, aber doch in anderen Elb-Naturschutzgebieten, so auf der Insel Neßsand, hat es Vernichtungsaktionen gegeben: Eine größere Gruppe Freiwilliger zieht im Namen des Naturschutzes durch die Flur, reißt alle auffindbaren Springkräuter aus – und hängt sie kopfüber in die Bäume, um Wiederbewurzlung zu vermeiden. Ein makabres Bild: Die bösen Pflanzen erhängt, die guten als Kollateralschaden zertreten. Damit ist eine ideale Grundlage für die Neubesiedlung geschaffen.
Häufig sind es gerade die Bekämpfungsmaßnahmen, von denen die inkriminierten Pflanzen profitieren.
Darüber Literatur zu finden, ist allerdings schwierig, ein Beispiel (für eine andere ‚Problempflanze’, die Ambrosie) ist Egler (1961) in Poppendieck (2007). Auf Fachtagungen konnte ich mehrfach hören, daß ‚Problemarten’ ihre Problematik mit der Zeit ganz von selbst verlieren, unabhängig von eventuellen Bekämpfungsmaßnahmen, falls sich diese nicht sogar verzögernd auf diesen Prozeß auswirkten. Wobei natürlich zu sagen ist, daß die ‚Problematik’ immer eine von den sich äußernden Personen definierte ist, nicht aber ein den Pflanzen innewohnendes Wesen ist.
Methodik
Neben dem allgemeinen, hier vorstehenden Gedanken-Machen ist die Datenerhebung in der Freien Flußzone simples Fotografieren gewesen (Dank an Till Krause – so simpel war es nicht...). Denkbar wäre auch eine wissenschaftlichere Artmächtigkeitserhebung gewesen, die Erfassung des Deckungsgrads gegenüber der als heimisch klassifizierten Vegetation, vielleicht auch noch in einer zeitlichen Reihe, um Entwicklungen festzustellen. Das ist aus verschiedenen Gründen nicht geschehen: Fehlende Ressourcen, der Status des Naturschutzgebiets, der eine gesonderte Betretungsgenehmigung erfordert hätte und nicht zuletzt die Relativität solcher Erhebungen, da es doch nur Menschenwerk gewesen wäre.
2
Fremdländischer Kraftfahrzeugverkehr auf der die Freie Flußzone Süderelbe querenden Bundesautobahn 1
Ausländische Kraftfahrzeuge sind derzeit Thema, zumindest für die CSU und dank ihrer Koalitionszugehörigkeit auch allgemein im Lande. Die Fremdfahrzeuge sollen zu Sonderzahlungen veranlaßt werden. Immerhin geht es hier nicht um Ausmerzen oder ähnlich Radikales – Wirtschaftsverkehre und Tourismus sind offenbar doch zu heilige Paarhuferinnen, um ihre vollständige Verbannung erreichen zu wollen.
Methode und Auswertung
Für die Auswertung habe ich ein etwas kompliziertes statistisches Verfahren gewählt. Zunächst stand ich an verschiedenen Tagen um den Jahreswechsel 2014/15 jeweils eine Zeitlang auf der Süderelbbrücke (die kurz zuvor von einem Schutenverband gerammt wurde, weswegen es Verkehrsbeschränkungen gab, die wiederum die Beobachtung erleichterten). Getrennt nach LKW, Bussen, Kleintransportern, PKW und Camping-Fahrzeugen habe ich nichtdeutsche Herkünfte erfaßt. Während der meisten Beobachtungszeit habe ich zusätzlich jeweils die deutschen Zulassungen gezählt, bis wieder ein ein fremdländisches Fahrzeug passierte, um den ‚Ausländeranteil’ zu ermitteln (das aber nicht nach Fahrzeugarten getrennt).
Die ausländischen Kennzeichen habe ich in Form von 4er bzw. 3er-Türmchen notiert (für die Fahrzeugarten getrennt: 4er für die häufigeren Fahrzeugklassen, die selteneren zu dreien). Die zuerst gesehene Nationalität kommt nach oben und erhält 4 bzw. 3 Punkte. Die nächste Sichtung kommt darunter und erhält einen Punkt weniger – usw. Jedes Land darf je Turm nur einmal vorkommen. Wenn der Turm voll ist, kommt die nächste Ausländersichtung an die neue Spitze. Dieses Verfahren sorgt für gewisse Verzerrungen. So kann ein nur einmal vertretenes Land, das das Glück hat, einen neuen Turm aufmachen zu dürfen, 4 Punkte erhalten, während eine Kolonne von 10 Fahrzeugen aus demselben Land ungünstigsterweise nur 2 Punkte erhält. Im Laufe der Zeit sollten sich solche Abbildungsfehler m.o.w. ausgleichen. Allerdings werden sehr häufig vorkommende Nationalitäten durch das Verfahren gewissermaßen gebremst, da neue Punkte erst dazukommen können, wenn 3 (bzw. 2) andere Landessichtungen aufgetreten sind. Das ist sozusagen eine soziale Komponente: Ein Land kann nur durch andere stark werden. Die Reihung der Häufigkeiten wird aber nicht grundsätzlich verändert.
Die Auswertung erfolgte dann in einer chronologisch-additiven Aufreihung der Punkte. Dabei läßt sich einiges vom Wesen der Statistik verfolgen. Wie schnell wird eine wie große Anzahl von Ländern erfaßt (je mehr Zeit, desto weniger neue kommen hinzu) oder wie lange dauert es, bis sich die Reihung stabilisiert, also als statistisch abgesichert angesehen werden kann?
Bei niedrigen Punktwerten kann auch noch nach längerer Zeit eine einzelne Sichtung den Rangplatz deutlich verändern.
Es ist auch Ungewöhnliches zu verzeichnen, so zB der extrem hohe Anteil estnischer LKW am 2. Beobachtungstermin, was sich sonst in der Stadt und im Hafen überhaupt nicht abbildet (mir fehlt eine Erklärung dafür). Interessant ist, daß polnische (und somit wohl mehrheitlich katholische) Kraftfahrer(*innen) den Sonntag dahingehend respektieren, daß sie deutlich weniger fahren als wochentags.
Die Erfassung ist insofern unvollständig, als ich die Herkunft einiger Fahrzeuge nicht erkennen konnte (wahrscheinlich ist ein arabischer PKW darunter gewesen), desweiteren habe ich bei den nicht selten vorkommenden gemischtländrigen LKW-Gespannen zumeist nur die Zugmaschine registriert. Offenbar werden hier unterschiedliche Besteuerungen ausgenutzt. Auffällig häufig sind dänische und finnische Anhänger hinter Zugmaschinen anderer Nationalität. Wie bei Schiffen gibt es auch eine Ausflaggung bei der Gummilogistik.
Auch gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Fahrzeugarten bezüglich der Herkünfte. So spielen LKW aus der Schweiz oder Frankreich praktisch keine Rolle, während PKW durchaus im Mittelfeld vertreten sind.
Auffällig unterrepräsentiert gegenüber sonstigen Beobachtungen in der Stadt ist Tschechien. Das dürfte damit zusammenhängen, daß dieses Herkunftsland genau querab der untersuchten Straßenverbindung liegt. Mutmaßlich dürfte der tschechische Anteil auf der A1-Brücke über die Norderelbe (also von und nach Osten) deutlich höher sein. Und ganz sicher ist der Binnenschiffsanteil aus der Tschechischen Republik auf der Süderelbe bedeutend – der Fluß ist schließlich die Direktverbindung von diesem Land zum Weltmeer. Die Betrachtung der Herkünfte der Wasserfahrzeuge wäre sicher einer eigenen Untersuchung wert, ist hier aber einstweilen nicht erfolgt.
Ebenfalls unterrepräsentiert ist der in Wilhelmsburger Straßen sehr auffällige Arbeitsmigrationsverkehr aus Osteuropa mit Fahrzeugen hauptsächlich aus Bulgarien. Die Autobahn, die Wilhelmsburg nur im östlichen, ländlichen Teil schneidet, dient eher den übergeordneten Verkehren, so daß sie für Transporte von Billig-Arbeitskräften kaum eine Rolle spielt. Außerdem haben die Beobachtungen nicht zu Schichtbeginn- und -endzeiten stattgefunden.
Ein Beispiel für die ergebnisorientierte Methodenwahl, und somit für grobe Unwissenschaftlichkeit, ist der spontane Beschluß, um das Ergebnis zu ‚verbessern’, auch anders erhobene Daten hinzuzunehmen. Ausgang war die Absicht, die ausländischen Kraftfahrzeuge fotografisch zu dokumentieren. Aus Praktikabilitätsgründen (bewegliche Ziele sind schwerer zu treffen...) tat ich dies am 4.1.15 mit stehenden Objekten an der Raststätte Stillhorn (südgerichtet). Da die Fahrzeuge annähernd alternativlos bei der Weiterfahrt die Freie Flußzone überqueren, fand ich dieses dokumentarische ‚Fremdgehen’ durchaus vertretbar. Da aber auf der Raste eine Reihe von sehr seltenen Ländern vertreten war, notierte ich kurzerhand alle in dem Moment vertretenen Herkünfte (darunter Georgien und Zypern*) und fügte sie dem Datenpool hinzu (in der Grafik rot, mit dem erkennbaren Schub des Länderzuwachses). Übrigens ein schon öfter beobachtetes Fänomen: LKW aus weit östlich liegenden, selten anzutreffenden Ländern finden sich meist stehend und kaum fahrend
- Offenbar auch ein steuerlich günstiges Ausflaggungsland
Bei der anschließenden Auswertung per Hand kann die Fehlergeneigtheit einer solchen Tätigkeit betrachtet werden, manches habe ich korrigiert – manches auch nicht. Wer mag, kann nach Ausbesserungen und unkorrigierten Inkonsistenzen suchen.
3
Bargeld in einer Kasse innerhalb der Freien Flußzone Süderelbe
Die Datenerhebung erfolgte durch Kassensturz einer innerhalb der Grenzen der Freien Flußzone Süderelbe befindlichen Barkasse (womit kein Wasserfahrzeug gemeint ist...) Alle nichtdeutschen Münzen wurden erfaßt und tabellarisch dargestellt.
Die Auswertung zeigt ein gewisses ‚Rauschen’: Die Reihenfolge von Anzahl und Wert der ausländischen Münzen ist durchaus unterschiedlich. Erwartungsgemäß sind Nachbar- und beliebte Urlaubsländer häufiger als entfernte
Um den Betrieb nicht zu sehr zu stören, habe ich den Anteil der ausländischen Münzen nur geschätzt, nicht ausgezählt. Beim ‚Silbergeld’ war gut jede 4. Münze fremder Herkunft, bei den größeren Cent-Stücken war der Anteil etwas geringer und beim ‚Kupergeld’ nochmals deutlich kleiner. Das dürfte Hinweise auf den Gebrauch des Münzgeldes in anderen Ländern geben und/oder über das Geldtransportverhalten der Reisenden. Der deutlich verringerte Ausländeranteil bei 1- und 2-Cent-Stücken dürfte abbilden, daß in anderen Euroländern die minderwertigsten Münzen weniger in Gebrauch sind, die Preise entweder glatter sind, oder doch wenigstens beim Bezahlen gerundet wird – Deutschland pfennigfuchst wohl am meisten.
Wirklich sinnvoll scheint das nicht zu sein. Der Cent kostet in der Herstellung mehr als sein Nominalwert – und ist für die Feinjustierung der Preise offenbar auch nicht notwendig: Wenn alle Supermarktpreise regelmäßig auf 9 enden, könnten sie ebensogut auf 0 enden. Im Nichteuronachbarland Dänemark lautet die kleinste Münze auf 50 Øre, das sind etwa 7 Cent, und die Wirtschaft funktioniert dennoch.
Eventuell wird vor der Fernreise auch das ballastreiche Kleinstgeld aussortiert, was in diesem Segment den Auswärtigenanteil zusätzlich kleinhält.
Bei den Münzen könnte eingewandt werden, daß ihre Fremdheit nicht besonders stark ausgeprägt ist, da sie (bei genauer Betrachtung nur annähernd) identische Vorderseiten haben und ihre grenzüberschreitende Verbreitung geradezu zum Zwecke der europäischen Integration gewollt ist.
Dabei ist festzuhalten, daß bei ausländischen Fahrzeugen oftmals gegenüber deutschen Zulassungen identische Modelle vertreten sind und die Fahrzeuge zumindest auch nach demselben Grundbauplan konstruiert sind.
Und auch die Fremdländischheit bestimmter Pflanzen ist durch einfache Erfassung der aktuell vorkommenden Pflanzen nicht zu ermitteln. Auch sie folgen gemeinsamen Grundbauplänen. Nur in Verbindung mit dem Wissen über eine eventuell gegebene jüngere Migrationsgesichte werden sie zu Fremden.
4
Zusammenfassung
Drei verschiedene Fremdheiten wurden innerhalb der Freien Flußzone Süderelbe betrachtet:
Exemplarisch eine fremdländische Pflanzenart,
ausländische Kraftfahrzeuge
und Münzgeld, das in anderen Ländern geprägt wurde.
Dabei ist ein Gradient der „Problematik“ des Fremdseins zu beobachten.
Pflanzenarten mit auswärtiger Herkunft werden – soweit sie als solche erkannt werden und zusätzlich mit Attributen wie aggressiv, allergieauslösend etc belegt werden – häufig Vernichtungsversuchen unterzogen. Oder theatralischer gesagt: Sie werden aufgrund ihres Böseseins mit der Todesstrafe belegt. (Was interessanterweise aber dem Vorkommen der inkriminierten Arten regelmäßig keinen Abbruch tut.)
.
Ausländischen Kraftfahrzeugen wird nicht mit derart drakonischen Maßnahmen begegnet. Aber daß sie deutsche Straßen abnutzen, ist der großen Politik in diesem Lande schon der Diskriminierung wert: Sie sollen gewissermaßen Strafgebühren für ihr Fremdsein bezahlen (was dann im Versuch, dies EU-rechtskompatibel zu machen, zu skurrilen Verrenkungen führt).
Wenn es aber um nacktes Geld geht, ist die Herkunft ohne Bedeutung. Die Münzen sind gleichwertig, egal, in welchem Euroland sie geprägt wurden. Höchstens eine positive Diskriminierung ist zu erwarten: Wenn der seltene Euro aus Malta in der Sammeldose landet.
5
Ausblick
Sollte es gelingen, die Freie Flußzone Süderelbe tatsächlich von allen aktuellen menschlichen Einflüssen zu befreien, so würden Auto- und Geldverkehr aus ihr verschwinden (oder sie blieben einfach liegen, würden langsam verrosten, verrotten, von Sedimenten überdeckt oder weggespült...) – und somit auch die fremden Elemente darin. Nur die fremden Pflanzen würden wahrscheinlich blieben, bildeten bei gleichbleibenden ökologischen Bedingungen munter eine Generation nach der anderen. Da aber nur (einige) Menschen um ihre Fremdheit wissen, verlören die Pflanzen diese Eigenschaft in dem Moment, wo niemand Wissendes mehr nach ihnen schaute.
6
Literatur
(kurz gehalten – es soll dies keine wissenschaftliche Arbeit sein, sondern nur eine Anregung)
Egler, F. E. (1961): Roadside Ragweed Control Knowledge, and its Communication between Science, Industry, and Society. – Recent Advances in Botany, Vol. 2. S. 1430-1435. Univ. Toronto Press
in
Poppendieck, H.-H. (2007): Die Gattungen Ambrosia und Iva (Compositae) in Hamburg, mit einem Hinweis zur Problematik der Ambrosia-Bekämpfung. – Berichte des Botanischen Vereins zu Hamburg, Heft 23. S. 53-70.
7
Autor
Jörg v. Prondzinski
|