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Freie Flusszone Süderelbe

Umfassender Konzepttext

von Till Krause


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FREIE FLUSSZONE SÜDERELBE

Hypothetische Schließung für die Binnenschifffahrt

Landschaft ist Zwecken untergeordneter Raum – so könnte man vielleicht sagen. Es sind weniger die individuellen Formungs- und Planungsabsichten, sondern kollektive, weitgehend der Ökonomie verpflichtete und nahezu allgegenwärtig durchgesetzte Zwecksetzungen, die Landschaft ihre Gestalt verleihen.

An solche gestaltgebende Zwecksetzungen versuchen wir mit der Tätigkeit unseres Künstlerprojektraums Galerie für Landschaftskunst heranzukommen. Insofern geht es in vielen unserer Vorhaben weniger um die Entwicklung physischer Formen – denn wie vermögen sie auch solch allgewaltigen Landschaftselementen wie einer Autobahn oder einer Schifffahrtsstraße zu antworten?! –, sondern um Versuche, die Vorstellungen von dem, was Landschaft ist und sein könnte, zum Gegenstand der Modellierung zu machen.

Doch wie an dem forschen und wie das modellieren, was so sehr Grundparameter unserer Existenz geworden ist, dass wir kaum anders können, als gänzlich in dessen Gefüge zu denken, wahrzunehmen und zu leben? Eine Methode ist: wilde Thesen auf einen Raum projizieren, ihnen extrem nachgehen und dann mal schauen, was draus wird. Aus kindlichem Spieltrieb kennen wir z. B. das Stur-über-alle-Hindernisse-hinweg-Geradeausgehen oder das Das-Auto-nicht-unter-200-kommen-Lassen als Experimente, mit denen Raumordnungen auf die Probe gestellt werden können. Am Anfang unserer Projekte stehen Widmungen und Umwidmungen von Land, spielerische Thesen über seine Existenz. Häufig beruhen sie auf Beobachtungen dessen, was dort ist oder sein könnte, doppeln oder übertreiben es, analysieren es, machen es plump an oder verdrehen und verrücken es …und manchmal gelingt es auf diesem Wege, an der Substanz eines Stück Landes zu rühren.

2012 rufen wir die Süderelbe in Hamburg zwischen Elbbrücken und Bunthäuser Spitze zur „Freien Flusszone“ aus und proklamieren für sie die „hypothetische Schließung für die Binnenschifffahrt“. Mit verschiedensten Mitteln wird die Hypothese publik gemacht: Plakate und Transparente, öffentlichen Aktionen, intensive Ansprache von Bewohnern, Nutzern, Planern, Zusammenarbeit mit der nahe gelegenen internationalen gartenschau 2013, Kunstwerke, ein mobiles Informationszentrum, Publikationen etc. Die Widerspruch herausfordernde Hypothese gibt den Anstoß, in engem Austausch mit allen, die es angeht, ein selbst ermächtigtes Forschungsprojekt durchzuführen und eine Vision für das Flussgebiet zu entwickeln. Wissenschaftliche Studien zur Uferbefestigung und Ökologie des Flusses werden durchgeführt. Mit den menschlichen und nicht menschlichen Anwesenden und Phänomenen entlang der Süderelbe wird Kontakt aufgenommen. Was könnte man unter einer „Freien Flusszone“ verstehen, was könnte von diesen Ideen an der Süderelbe realisiert werden und was wären die Folgen?

Dem Ortsunkundigen sei erläutert, dass der Fluss Elbe in Hamburg eine außergewöhnliche Form annimmt. Hier nämlich, über 100 km von der Nordsee entfernt, beginnt er sein lang gezogenes Mündungsgebiet, sein Ästuar. Dieses Ästuar wird vom Meer her täglich von der Tide, von Ebbe und Flut, berührt, aber aufgrund der Entfernung dringt das Meeres-Salzwasser nicht bis hierher. Darum bildet der Fluss in Hamburg ein Süßwasser-Tide-Ästuar. So etwas gibt es europaweit nur selten, und entsprechend einzigartige Lebensbedingungen und -formen lassen sich hier finden. Ursprünglich war die Elbe hier in viele Flussarme gespalten. Im täglichen Wechsel von auf- und ablaufendem Wasser existierte ein ständig veränderliches Gewebe von Wasser und Land. Im Laufe der letzten Jahrhunderte wurde dem Ästuar zwecks Landgewinnung, Schifffahrt und Sturmflutschutz der größere Teil seines Raumes genommen, die Elbe vertieft, begradigt und eingedeicht, die Stadt und der Hafen immer weiter in die Flussebene ausgeweitet. Heute ist der ästuarische Charakter der Ebene nur noch rudimentär vorhanden und der Fluss auf zwei letzte Arme reduziert, auf die Norder- und die Süderelbe. Beide Arme sind durchkonstruierte Schifffahrtsstraßen, sind von Steinschüttungen eingefasst und laufen schnell und gradlinig. Aber sie sind auch vielgestaltig. In unserem Projektgebiet liegt das seltene Fragment eines Süßwasser-Tide-Auenwaldes, überquert von einer Autobahn, flankiert und durchsetzt von einem Badestrand, Tankschiffanlegern, Bahngleisen, privaten Deichvorland-Gärten, Sportboothäfen und öden Deichstrecken.

Da die Elbe in Hamburg in zwei Arme gespalten ist, da hier die Wasserverkehrsstraße sozusagen dupliziert ist, bietet sich der Gedanke an, die konventionelle Elbenutzung über den einen Arm laufen zu lassen und über den anderen – oder zumindest über einen Teil von ihm – ganz neu nachzudenken. Würde man im Projektgebiet z. B. auf den Erhalt der Fahrrinne verzichten, die Steinschüttungen entlang der Uferlinie entfernen und die gradlinige Trennung zwischen Ufern und Strom auflösen, würde ein dynamischer Prozess mit komplexen Folgen in Gang gesetzt, der nicht nur die Wasserströmungen und Uferzonen, nicht nur die Nutzungen, Funktionen und Lebensräume des Flussabschnittes veränderte, sondern auch Auswirkungen hätte auf fern liegende Fluss- und Stadtgebiete. Als Bild schwebt uns ein Stück Land vor, in dem nicht Ordnung, sondern unablässig komplexeste Veränderlichkeit herrscht. Könnte hier ein Modellgebiet entwickelt werden, zu dem die Gesellschaft ein experimentelles Verhältnis eingeht?

Die Hypothese „Freie Flusszone – Schließung für die Binnenschifffahrt“ steht in einem schrägen, ambivalenten und aus gewisser Perspektive simplifizierenden Verhältnis zum Status quo. Zum einen ist sie absurd, weil sie nicht zu den fest gefügten Notwendigkeiten unserer gesellschaftlichen Realität passt. Ihre Umsetzung könnte, Transportumwege erzwingend, Arbeitsplätze kosten und Firmen ruinieren. Sie könnte vielleicht die Strömungsverhältnisse des Flusses derart verwerfen, dass auch drum herum nichts mehr funktioniert. Die Koppelung von Landschafts- und Gesellschaftsorganisation ist kaum zu brechen. Zum anderen ergibt die Hypothese an diesem Flussstück einen verblüffend einfachen und realitätsnahen Sinn, eben weil hier der Fluss gedoppelt ist und weil hier mit Blick auf den vorhandenen Tide-Auenwald ohnehin eine ungewöhnliche Änderungsbereitschaft vorliegt. Manche Gesprächspartner aus dem Hafen und den Behörden bekommen leuchtende Augen bei der Vorstellung, aber stellen zugleich klar: politisch undenkbar.

In diesem schrägen und ambivalenten Verhältnis wollen wir zwei Gründe für die Umsetzung der Hypothese anführen, einen „angewandten“ und einen „künstlerischen“:

A) Angesichts so verschiedener (miteinander gekoppelter) Faktoren wie Klimawandel, steigender Meeresspiegel, Elbvertiefung und -verengung, massive Veränderungen der Strömungsdynamik in der Unterelbe, Sedimentation, extreme Kosten für die Schiffbarmachung, ökologische Probleme und heftige Sturmfluten wird inzwischen auf breiter Basis darüber nachgedacht, der Elbe wieder mehr Raum zu geben. Uferzonen werden renaturiert und an wenigen Stellen werden Deiche zurückverlegt. Im Kontext dieser Überlegungen setzt unser Vorschlag an.

B) Unser Vorhaben ist von der Vorstellung getragen, dass ein Landschaftsraum genau wie ein Werk der „freien Kunst“ gänzlich zweckfrei in seiner phänomenalen, eigensinnigen, komplexen Existenz aufgefasst werden könnte. Dafür existieren unserer Wahrnehmung nach in unserer Kultur kein Raum und kaum ein Begriff. Indem das Vorhaben ein Kunstprojekt ist – indem sich darin gänzlich ungebundene Vorstellungen mit sehr anwendungsorientierten, technischen und ökologischen mischen und indem zugleich frei fabuliert und naturwissenschaftlich geforscht wird –, indem es sich also um eine freidenkerische Modellsituation handelt, in der jedes Für und Wider gleichermaßen als Arbeitsmaterial aufgenommen wird, hoffen wir einen extrem weiten kollektiven Ideen- und Imaginationsraum zu öffnen.

Informationen über den Fortgang des Projektes unter www.freieflusszone.org


Text von Till Krause für das Buch Aus Hamburg. Lokale Positionen urbaner Landschaftsgestaltung, herausgegeben von Sarah C. Schreiner, Verlag GUDBERG, ISBN: 978-3-943061-18-5, beim Verlag bestellen


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